Festival für psychogeographische Klangexkursionen Uckermark
14. – 16.5.2021
Kulturhaus Rosow
Am Bahnhof 4-5, 16307 Mescherin
“Ich unterscheide zwischen Hören und Zuhören. Hören ist das physische Mittel, das die Wahrnehmung ermöglicht. Zuhören bedeutet, dem Wahrgenommenen Aufmerksamkeit zu schenken, sowohl akustisch als auch psychologisch.” (Pauline Oliveros, Deep Listening)
Künstlerische Praxis arbeitet mit der Verengung auf bestimmte Aspekte des Wahrgenommenen und ist somit immer auch Reflektion der eigenen Lebenswirklichkeit. Das diese aber auch heutzutage noch auf Grundlage einer Dominanz des Visuellen basiert ist ein folgenschwerer Anachronismus, denn so entgeht uns ein grosser Teil der möglichen Welterfahrung, die über das Auditive vermittelt wird. Da die Wahrnehmung keinen absoluten Wert darstellt, sondern auch erlernt werden muss, ist es für die künstlerische Praxis von grossem Vorteil immer wieder aufs Neue die Mechanismen der eigenen Wahrnehmung zu hinterfragen um sich der Umwelt zu nähern.
Eine gute Methode, sich der Umwelt zu nähern ist die von den Situationisten und Lettristen künstlerisch genutzte Psychogeographie. Sie untersucht, welchen Einfluss die architektonische oder geographische Umgebung auf die Wahrnehmung, das psychische Erleben und das Verhalten der Menschen hat. Die Psychogeographische Forschung findet dabei an der Schnittstelle der Fachgebiete Kunst, Architektur, Geographie und Psychologie statt. Als Spaziergangswissenschaft ist die Psychogeographie eine kulturwissenschaftliche und ästhetische Methode, die darauf zielt, die Bedingungen der Wahrnehmung der Umwelt bewusst zu machen. Sie basiert sowohl auf einer kulturgeschichtlichen Analyse von Formen der Umweltwahrnehmung als auch auf experimentellen Praktiken zur Umweltwahrnehmung wie reflexiven Spaziergängen und ästhetischen Interventionen.
Im Fokus dieser psychogeographischen Klang-Exkursionen als ästhetischer Bewegungslehre steht jedoch nicht das Spektakuläre und Offensichtliche, sondern das Abseitige, das im Zwischenraum verborgene Unsichtbare. Denn auch im Kleinsten sieht man jene Zusammenhänge vorgeprägt, die kennzeichnend sind für das große Ganze. Das von Windrädern und industrieller Landwirtschaft geprägte Grenz-Gebiet ist als Un-Ort im Niemandsland ein Erinnerungs-Speicher für gesellschaftliche Transformationsprozesse der letzten 100 Jahre, die es aufzuspüren gilt.
Das Festival für psychogeographische Klangexkursionen lädt zehn ausgesuchte Berliner Klangkünstler auf einen abgelegenen ehemaligen Bahnhof in Brandenburg an der polnischen Grenze bei Stettin ein, den geographischen Grenzbereich zwischen Brandenburg/Mecklenburg und Vorpommern/Deutschland/Polen künstlerisch zu reflektieren. In Anlehnung an Pauline Oliveros Begriff des Deep Listening und R. Murray Schafers Unterscheidung in Lo-Fi/Hi-Fi-Klanglandschaften sollen die eingeladenen KünstlerInnen auf die Bedingungen des eigenen Wahrnehmungsapparats und ihrer Umwelt aufmerksam werden und gleichzeitig ihren Wahrnehmungshorizont erweitern. Durch die Konzentration auf das akustische Erscheinungsbild des abgelegenen, menschenleeren ländlichen Raumes und die phänomenologische Betrachtung der Peripherie als Klanglandschaft mit der psychogeographischen Exkursion als Methode, sollen Künstler und Publikum für einen Perspektivenwechsel vom Visuellen hin zum Auditiven sensibilisiert werden.
Als Ergebnis wird jede/r KünstlerIn ein 5 Minütiges Sound/Video-Polaroid anfertigen. Die Summe der 10 Arbeiten bildet den Grundstock für ein langfristig angelegtes Projekt zur humangeographischen Kartographierung des Grenzgebietes zwischen Deutschland und Polen.
Die audio-visuellen Ergebnisse des Festivals werden vom 9. – 16. Oktober 2021 im Projektraum Liebig 12, Liebigstr. 12, 10247 Berlin im Rahmen des 14-tägigen Kulturfestivals Kultur am Dorfplatz präsentiert.
Weitere Präsentationen sind in Planung. Die Audio-Arbeiten wurden am 17.8.2021 im Programm des Kunst-Radio-Projektes Radio Industry vorgestellt und bald im Audioarchiv abrufbar sein.